Aus der Chronik des Ortsvereins Seligenstadt
 
     
  DER SOZIALDEMOKRATISCHER VEREIN -
LEGITIMER BESTANDTEIL DER GEMEINDE

Am 26. Mai 1903 wurde in Seligenstadt ein neuer Bürgermeister gewählt. Von 729 Wahlberechtigten machten 672 davon Gebrauch. Folgende Kandidaten standen zur Wahl und erreichten das nachstehende Ergebnis:

 
Franz David Fecher Gemeinderat 109 Stimmen
David Singer Rendant 272 Stimmen
Johann Böres II Beigeordneter 288 Stimmen
  Es waren drei abgegebene Stimmzettel ungültig. Da keiner der beiden mit den meisten Stimmen die absolute Mehrheit errang, war eine Stichwahl notwendig, die am 9. Mai durchgeführt wurde. Das allgemeine Interesse für diese wichtige Wahl wurde durch ein plötzlich auftretendes (absichtliches?) Ereignis gestört. Dazu schreibt der „Seligenstädter Anzeiger" am 13. Mai in seinem bekannt-harmlosen Stil folgenden Artikel, der jede und alle Vermutungen offen läßt:

„Gegen 6 Uhr nachmittags verkündeten Sturmgeläute und Alarmsignale den Ausbruch eines Schadenfeuers auf dem städtischen, an Private verpachteten Holzlagerplatze am westlichen Stadtende, der sogenannte ,Kieskaute'. Daselbst fielen etwa 15 Raummeter aufgeschichteten Buchen- und Kiefernholzes, nebst einem Quantum Wellen zum Nachteile dreier, angeblich unversicherter Besitzer dem verheerenden Element zum Opfer. Die uniformierte freiwillige Feuerwehr dämpfte den Brand, der sich auf die anstoßenden bedeutenden Holzlager auszudehnen und damit gewaltige Dimensionen anzunehmen drohte".

Bei dieser Stichwahl waren von 728 Wahlberechtigten 695 Wähler zur Wahlurne gegangen. Das Ergebnis war äußerst knapp und ließ einige Vermutungen zu, die, von bösen Zungen verbreitet, in Umlauf gebracht wurden. Singer siegte mit 351 gegen 344 Stimmen, die Böres II auf sich vereinen konnte. Mit einer Majorität von 7 Stimmen hätte David Singer nun das Amt des Seligenstädter Stadtoberhauptes ausüben können. Es sollte aber (noch) nicht sein, denn - die Wahl wurde vom Kreisausschuß wegen angeblicher Formfehler mit Erfolg angefochten und mußte also erneut wiederholt werden. Termin war der 18. Juni.

Von 728 Wahlberechtigten verzichteten diesmal 20 auf ihr Wahlrecht, so dass sich die 705 abgegebenen Stimmen (drei Zettel waren ungültig) wie folgt verteilten:

David Singer 361 Stimmen
Johann Böres II 344 Stimmen

Somit wurde nun endlich im dritten Wahlgang mit einer Mehrheit von 17 Stimmen David Singer zum Bürgermeister der Stadt Seligenstadt für die kommenden neun Jahre gewählt.

Die Wahl zum 11. Deutschen Reichstag war auf den 16. Juni 1903 festgesetzt worden. Zu dieser Wahl sprach am 13. des Monats der bisherige Abgeordnete Carl Ulrich, der danach für eine Legislaturperiode sein Mandat verlor, wie das Resultat später zeigen wird, zu seinen Anhängern in Seligenstadt (Anzeige im „Seligenstädter Anzeiger" vom 13. Juli).

  Für den Wahlkreis Offenbach-Dieburg kandidierten:
  • Carl Ulrich (SPD)
  • Dr. Jacob Becker, Arzt aus Sprendlingen (Nat.Liberale)
  • Philipp Uebel aus Dieburg (Zentrum)
     
 
Mit 81,6% war die Wahlbeteiligung um 16% höher als vor fünf Jahren. Die Nationalliberalen profitierten am meisten davon und konnten über ein Drittel der Stimmen auf sich vereinigen, während sie 1898 nur auf 14,3% gekommen waren. Der prozentuale Anteil von Zentrum und SPD sank entsprechend, obwohl sie mehr als tausend bzw. dreitausend Stimmen gewannen.
Das Ergebnis des Wahlkreises Offenbach-Dieburg:
 
Ulrich (SPD) 16 425 Stimmen
Becker (Lib.) 11 796 Stimmen
Uebel (Zen.) 6 313 Stimmen

Ulrich fehlten 2,7% zur absoluten Mehrheit; wieder �usste eine Stichwahl durchgeführt werden, die für den 25. Juni 1903 angesetzt wurde. Das Zentrum bildete wieder das „Zünglein an der Waage".

Und so wählte Seligenstadt:

Ulrich (SPD) 302 Stimmen
Becker (Lib.) 57 Stimmen
Uebel (Zen.) 211 Stimmen


Ein großer Erfolg der Seligenstädter Sozialdemokraten hatte sich eingestellt, besiegte Ulrich in der Zentrumshochburg den Kandidaten dieser Partei, Philipp Uebel. Auch bei der Stichwahl zwischen Ulrich und Becker konnte dann der SPD-Kandidat (mit Hilfe des Zentrums allerdings) mit 371 gegen 331 Stimmen siegen. Aber für den Reichstag genügte es doch nicht. Nach seinen vergangenen drei Wahlsiegen (1890, 1893 und 1898) war Carl Ulrich diesmal der Unterlegene. Der Sieger, Dr. Jacob Becker, hatte bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von 87,5% schließlich 52,6% der Wähler für sich gewinnen können. Das amtliche Ergebnis der Stichwahl für den Wahlkreis Offenbach-Dieburg lautete:

Becker 19 640 Stimmen
und
Ulrich 18 044 Stimmen.
Damit vertrat der Sprendlinger Arzt bis zur nächsten Wahl unsere Region.

Am 25. Juni 1904 fanden die Gemeinderatswahlen statt. Dazu schreibt der „Seligenstädter Anzeiger" am Vortag:

„Die Gemeinderatswahl findet morgen auf dem Rathaus dahier statt und es ist Pflicht jedes Wahlberechtigten von diesem seinem gutem Recht Gebrauch zu machen und als Stadträte die befähigsten Bürger mit seinem Vertrauen zu beehren. Bereits regt es sich in der Gemeinde in verschiedenen Parteirichtungen in rühriger Agitation für die einzelnen Kandidaten und scheint die Wahl von den Parteien diesmal friedlich behandelt zu werden. Als Vorsitzender wird dem Wahlakt beiwohnen Herr Bürgermeister Singer und Beisitzer die Herren Stadträte Jakob Appelmann und Anton Sprey II".

Über das Ergebnis nochmals der „Seligenstädter Anzeiger" vom 29. Juni in seiner biederen Zentrumsart, deren Rhetorik sich allerdings sehr gemäßigt hat:

„Bei der am Samstag unter lebhafter Beteiligung hier vollzogenen Wahl von vier Gemeinderatsmitglieder machten unter 763 Wahlberechtigten über 600 von ihrem Befugnis Gebrauch. Auf fünf verschiedenen zur Ausgabe gelangten Wahlzettel wurden nicht weniger als 12 Kandidaten in Vorschlag gebracht. Davon siegten die Herren Schuhmachermeister Gabriel Rachor mit 343, Sparkassenrechner Jakob Anton Burkhard mit 310, Landwirt Adam Rückert mit 277 und Bauunternehmer Peter Joseph Nessel mit 271 Stimmen. Die übrigen 8 Bewerber erhielten 266 resp. 242, 174, 172, 126, 85, 70 und 68 Stimmen. Die gewählten Herren Rachor und Rückert gehörten auch bisher schon dem Stadtvorstande an."

Am Samstag, dem 16. April 1905, fand um 16 Uhr im „Schützenhof" eine öffentliche Volksversammlung statt, die der Sozialdemokratische Wahlverein Seligenstadt einberufen hat. Referent war Peter Eckrath aus Mühlheim, sein Thema: Die Forderungen der Arbeiterschaft an den Gegenwartsstaat. Die Einladung hatte sich gelohnt, denn der Saal war besetzt, und die anschließende Diskussion verlief unter reger Beteiligung vieler Zuhörer.

Auf Mittwoch, den 15. November 1905, wurde die Wahl von acht Wahlmännern für die Gemeinde Seligenstadt zwecks Wahl eines Landtagsabgeordneten festgelegt. Sie findet im Bürgermeisterbüro statt. Ein harter Kampf zwischen SPD und Zentrum ging diesem Ereignis voraus. In zahlreich abgehaltenen Versammlungen wurde das Ziel gesetzt: Ablösung der Zentrumsmehrheit. (Anzeige vom 4. November im „Seligenstädter Anzeiger").

 

 


 
Zwei Kandidaten ringen in diesem Wahlkampf um ein Landtagsmandat. Für die SPD der Gemeinderat Karl Rink aus Urberach und für das Zentrum der Weinhändler David Horn. Die acht sozialdemokratischen Wahlmänner sind:
   
Anton Ott Johann Joseph Höfling II
Adam Malsi Joseph Ott
Johann Eduard Gohr Anton Ott II
August Wurzel Joseph Acker
 
Trotz eifriger Bemühungen blieben die Sozialdemokraten chancenlos. Von 813 Wahlberechtigten machten 610 von diesem Recht Gebrauch. Auf jeden der acht Zentrumswahlmänner entfielen 451 bis 454 Stimmen, während sich die Sozialdemokraten mit 136 bis 143 Stimmen begnügen mußten. Der bisherige Landtagsabgeordnete David Horn zog also sicher wieder in den Hessischen Landtag ein.